Rettet die Phänomene

15. Februar 2021

An Dinge, die Schulkinder intensiv erleben, können sie sich ein Leben lang erinnern – anders, als wenn sie etwas nur gehört oder darüber gelesen haben. Das eigene Erleben ist eine Voraussetzung für die Entwicklung von Neugier und intrinsischer Motivation.

Vermutlich hat niemand dem authentischen Erleben im Schulunterricht so viel Bedeutung beigemessen wie der deutsche Pädagoge Martin Wagenschein. Als «Ineins» von Physik und des kindlichen, von Schulwissen noch unbefangenen Denkens prägt das sogenannte «genetisch sokratisch exemplarische Lehren» bis heute die Schuldidaktik – auch und insbesondere im Technorama.

Wagenschein beschreibt diese Lehren folgendermassen: «Das Genetische gehört zur Grundstimmung des Pädagogischen überhaupt. Pädagogik hat es mit dem Werdenden zu tun; mit dem werdenden Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm. Die sokratische Methode gehört dazu, weil das Werden, das Erwachen geistiger Kräfte, sich am wirksamsten im Gespräch vollzieht. Das exemplarische Prinzip gehört dazu, weil ein genetisch-sokratisches Verfahren sich auf exemplarische Themenkreise beschränken muss und auch kann.» Exemplarisch sind Naturphänomene, insbesondere mit Bezug zum Licht, zur Himmelskunde, zum Magnetismus, zum Fallgesetz und zur Mathematik.

Neugier als Schlüsselrolle

Auch wenn Wagenschein den Begriff «Neugier» in seinen Schriften nicht explizit verwendet, so spielt sie in seiner Didaktik eine Schlüsselrolle. Tatsächlich fordert er unmissverständlich Neugier ein, wenn er sich in seinen Lehrstücken strikt auf die aus dem Alltagsleben vertraute Welt des «Offenbaren» hält, an das Sichtbare, Hörbare, Fühlbare, das es zu beobachten und in eigene Worte zu fassen gilt. Stets geht es um ein Verstehen, das sich unmittelbar aus dem kindlichen Suchen und Finden, Denken und Entdecken entwickeln soll.

Die grosse Sorgfalt, die Wagenschein für seine «Lehrkunst» aufwendet, ist anhand vieler Beispiele gut dokumentiert. Die jeweilige Naturerscheinung muss nicht nur unmittelbar erlebbar sein, sondern auch die damit verbundene Fragestellung muss ohne jede Vorkenntnisse lösbar sein. Es braucht dann viel Zeit und Geduld, damit sich «Verstehen» aus dem Staunen, Beobachten und Mutmassen jedes Einzelnen entwickeln kann: Es geht nicht darum, den Schülern Wissen beizubringen, sondern «mit Ruhe, Besinnung und Eindringlichkeit Zwiesprache zu halten mit den Dingen».

Ein Leben lang widersetzte sich Martin Wagenschein dem vorherrschenden Schulbetrieb, welcher das kindliche Denken möglichst früh und schnell durch vorgeformtes und messbares «Wissen» überwinden, ersetzen und umtauschen will. «Die Schule bringt dem Menschen das Urteil in den Kopf, ehe er die Sache sieht und kennt…», beklagte bereits Johann Heinrich Pestalozzi vor fast 250 Jahren. Martin Wagenschein hat diesen Kampf mit grossem Erfolg weitergeführt.

>> Lesen Sie hier weiter, wie die Lehrperson die Neugier ihrer Schüler fördern kann

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